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In Osnabrück hatte sie mir zum erstenmal gesagt, sie habe Angst vor mir, als ich mich weigerte, nach Bonn zu fahren, und sie unbedingt dorthin wollte, um

»katholische Luft« zu atmen. Der Ausdruck gefiel mir nicht, ich sagte, es gäbe auch in Osnabrück genug Katholiken, aber sie sagte, ich verstünde sie eben nicht und ich wollte sie nicht verstehen. Wir waren schon zwei Tage in Osnabrück, zwischen zwei Engagements, und hatten noch drei Tage vor uns. Es regnete seit dem frühen Morgen, in keinem Kino lief ein Film, der mich interessiert hätte, und ich hatte gar nicht erst den Vorschlag gemacht, Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen. Schon am Vortag hatte Marie dabei ein Gesicht gemacht wie eine besonders beherrschte Kinderschwester.

Marie lag lesend auf dem Bett, ich stand rauchend am Fenster und blickte auf die Hamburger Straße, manchmal auf den Bahnhofsplatz, wo die Leute aus der Halle rannten, im Regen auf die haltende Straßenbahn zu. Wir konnten auch »die Sache« nicht machen. Marie war krank. Sie hatte keine regelrechte Fehlgeburt gehabt, aber irgend etwas dieser Art. Ich war nicht genau dahinter gekommen, und keiner hatte es mir erklärt. Sie hatte jedenfalls geglaubt, sie sei schwanger, war es jetzt nicht mehr, sie war nur ein paar Stunden am Morgen im Krankenhaus gewesen. Sie war blaß, müde und gereizt, und ich hatte gesagt, es wäre sicher nicht gut für sie, jetzt die lange Bahnfahrt zu machen. Ich hätte gern Näheres gewußt, ob sie Schmerzen gehabt hatte, aber sie sagte mir nichts, weinte nur manchmal, aber auf eine mir ganz fremde, gereizte Art.

Ich sah den kleinen Jungen von links die Straße heraufkommen, auf den Bahnhofsplatz zu, er war klatschnaß und hielt im strömenden Regen seine

Schulmappe offen vor sich hin. Er hatte den Deckel der Tasche nach hinten

druck, wie ich ihn auf Bildern von den Heiligen Drei Königen gesehen habe, die dem Jesuskind Weihrauch, Gold und Myrrhe hinhalten. Ich konnte die nassen, fast schon aufgelösten Buchumschläge erkennen. Der Gesichtsausdruck des Jungen erinnerte mich an Henriette. Hingegeben, verloren und weihevoll. Marie fragte mich vom Bett aus: »Woran denkst du?« Und ich sagte: »An nichts.« Ich sah den Jungen noch über den Bahnhofsvorplatz gehen, langsam, dann im Bahnhof verschwinden, und hatte Angst um ihn; er würde für diese weihevolle Viertelstunde fünf Minuten bitterlich büßen müssen: eine zeternde Mutter, ein bekümmerter Vater, kein Geld im Haus für neue Bücher und Hefte. »Woran denkst du«, fragte Marie noch einmal. Ich wollte schon wieder »an nichts« sagen, dann fiel mir der Junge ein, und ich erzählte ihr, woran ich dachte: wie der Junge nach Haus kam, in irgendein Dorf in der Nähe, und wie er wahrscheinlich lügen würde, weil niemand ihm glauben konnte, was er tatsächlich getan hatte. Er würde sagen, er wäre ausgerutscht, die Mappe wäre ihm in eine Pfütze gefallen, oder er habe sie für ein paar Minuten aus der Hand gestellt, genau unter den Abfluß einer Dachrinne, und plötzlich wäre ein Wasserguß gekommen, mitten in die Mappe hinein. Ich erzählte das alles Marie mit leiser, monotoner Stimme, und sie sagte vom Bett her: »Was soll das? Warum erzählst du mir solchen Unsinn?« - »Weil es das war, woran ich dachte, als du mich gefragt hast.« Sie glaubte mir die ganze Geschichte von dem Jungen nicht, und ich wurde böse. Wir hatten einander noch nie belogen oder der Lüge bezichtigt. Ich wurde so wütend, daß ich sie zwang, aufzustehen, die Schuhe anzuziehen und mit mir in den Bahnhof hinüberzulaufen. Ich vergaß in der Eile den Regenschirm, wir wurden naß und fanden den Jungen im Bahnhof nicht. Wir gingen durch den Wartesaal, sogar zur Bahnhofsmission, und ich erkundigte mich schließlich beim Beamten an der Sperre, ob vor kurzem ein Zug abgefahren sei. Er sagte, ja, nach Bohmte, vor zwei Minuten. Ich fragte ihn, ob ein

Junge durch die Sperre gekommen sei,

klatschnaß, mit blondem Haar, so und so groß, er wurde mißtrauisch und fragte: »Was soll das ? Hat er was ausgefressen?« - »Nein«, sagte ich, »ich will nur wissen, ob er mitgefahren ist.« Wir waren beide naß, Marie und ich, und er blickte uns mißtrauisch von oben bis unten an. »Sind Sie Rheinländer?« fragte er. Es klang, als fragte er mich, ob ich vorbestraft wäre. »Ja«, sagte ich. »Auskünfte dieser Art kann ich nur mit Genehmigung meiner vorgesetzten Behörde geben«, sagte er. Er hatte sicher mit einem Rheinländer schlechte Erfahrungen gemacht, wahrscheinlich beim Militär. Ich kannte einen Bühnenarbeiter, der einmal von einem Berliner beim Militär betrogen worden war und seitdem jeden Berliner und jede Berlinerin wie persönliche Feinde behandelte. Beim Auftritt einer Berliner Artistin schaltete er plötzlich das Licht aus, sie vertrat sich und brach ein Bein. Die Sache wurde nie nachgewiesen, sondern als

»Kurzschluß« deklariert, aber ich bin sicher, daß dieser Bühnenarbeiter das Licht nur ausgeschaltet hat, weil das Mädchen aus Berlin war und er beim Militär von einem Berliner einmal betrogen worden war,. Der Beamte an der Sperre in Osnabrück sah mich mit einem Gesicht an, daß mir ganz bange wurde. »Ich habe mit dieser Dame gewettet«, sagte ich, »es geht um eine Wette.« Das war falsch, weil es gelogen war und jeder mir sofort ansieht, wenn ich lüge. »So«, sagte er, »gewettet. Wenn Rheinländer schon anfangen zu wetten.« Es war nichts zu machen. Einen Augenblick lang dachte ich daran, ein Taxi zu nehmen, nach Bohmte zu fahren, dort am Bahnhof auf den Zug zu warten und zu sehen, wie der Junge ausstieg. Aber er konnte ja auch in irgendeinem Nest vor oder hinter Bohmte aussteigen. Wir waren klatschnaß und froren, als wir ins Hotel zurückkamen. Ich schob Marie in die Kneipe unten, stellte mich an die Theke, legte meinen Arm um sie und bestellte Kognak. Der Wirt, der gleichzeitig Hotelbesitzer war, sah uns an, als hätte er am liebsten die Polizei gerufen. Wir hatten am Tag davor stundenlang Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt, uns Schinkenbrote

und Tee heraufbringen lassen, am Morgen war

Marie ins Krankenhaus gefahren, blaß zurückgekommen. Er stellte uns den Kognak so hin, daß er halb überschwappte, und blickte ostentativ an uns vorbei. »Du glaubst mir nicht?« fragte ich Marie, »ich meine mit dem Jungen.« - »Doch«, sagte sie, »ich glaub's dir.« Sie sagte es nur aus Mitleid, nicht, weil sie mir wirklich glaubte, und ich war wütend, weil ich nicht den Mut hatte, den Wirt wegen des verschütteten Kognaks zur Rede zu stellen. Neben uns stand ein schwerer Kerl, der schmatzend sein Bier trank. Er leckte sich nach jedem Schluck den Bierschaum von den Lippen, sah mich an, als wollte er mich jeden Augenblick ansprechen. Ich fürchte mich davor, von halbbetrunkenen Deutschen einer bestimmten Altersklasse angesprochen zu werden, sie reden immer vom Krieg, finden, daß es herrlich war, und wenn sie ganz betrunken sind, stellt sich raus, daß sie Mörder sind und alles »halb so schlimm« finden. Marie zitterte vor Kälte, sah mich kopfschüttelnd an, als ich unsere Kognakgläser über die Nickeltheke dem Wirt zuschob. Ich war erleichtert, weil er sie diesmal vorsichtig zu uns rüberschob, ohne etwas zu verschütten. Es befreite mich von dem Druck, mich feige zu fühlen. Der Kerl neben uns schlürfte einen Klaren in sich hinein und fing an, mit sich selbst zu sprechen. »Vierundvierzig«, sagte er, »haben wir Klaren und Kognak eimerweise getrunken - vierundvierzig eimerweise - den Rest kippten wir auf die Straße und steckten ihn an ... kein Tropfen für die Schlappohren.« Er lachte. »Nicht ein Tropfen.« Als ich unsere Gläser noch einmal über die Theke dem Wirt zuschob, füllte er nur ein Glas, sah mich fragend an, bevor er das zweite füllte, und ich merkte jetzt erst, daß Marie gegangen war. Ich nickte, und er füllte auch das zweite Glas. Ich trank beide leer, und bin heute noch erleichtert, daß es mir gelang, danach wegzugehen. Marie lag weinend oben auf dem Bett, als ich meine Hand auf ihre Stirn legte, schob sie sie weg, leise, sanft, aber sie schob sie weg. Ich setzte mich neben sie, nahm ihre Hand, und sie ließ sie mir. Ich war froh. Es wurde schon dunkel draußen, ich

saß eine Stunde neben ihr auf dem Bett

und hielt ihre Hand, bevor ich anfing zu sprechen. Ich sprach leise, erzählte noch einmal die Geschichte von dem Jungen, und sie drückte meine Hand, als wollte sie sagen: Ja, ich glaub's dir ja. Ich bat sie auch, mir doch genau zu erklären, was sie im Krankenhaus mit ihr gemacht hatten, sie sagte, es wäre eine »Frauensache« gewesen,

»harmlos, aber scheußlich.« Das Wort Frauensache flößt mir Schrecken ein. Es klingt für mich auf eine böse Weise geheimnisvoll, weil ich in diesen Dingen vollkommen unwissend bin. Ich war schon drei Jahre mit Marie zusammen, als ich zum erstenmal etwas von dieser »Frauensache« erfuhr. Ich wußte natürlich, wie Frauen Kinder bekommen, aber von den Einzelheiten wußte ich nichts. Ich war vierundzwanzig Jahre alt und Marie schon drei Jahre meine Frau, als ich zum erstenmal davon erfuhr. Marie lachte damals, als sie merkte, wie ahnungslos ich war. Sie zog meinen Kopf an ihre Brust und sagte dauernd: »Du bist lieb, wirklich lieb.« Der zweite, der mir davon erzählte, war Karl Emonds, mein Schulkamerad, der dauernd mit seinen fürch- terlichen Empfängnistabellen hantiert.

Später ging ich noch für Marie zur Apotheke, holte ihr ein Schlafmittel und saß an ihrem Bett, bis sie eingeschlafen war. Ich weiß bis heute nicht, was mit ihr los gewesen war und welche Komplikationen die Frauensache ihr gemacht hatte. Ich ging am anderen Morgen in die Stadtbibliothek, las im Lexikon alles, was ich darüber finden konnte, und war erleichtert. Gegen Mittag fuhr Marie dann allein nach Bonn, nur mit einer Tasche. Sie sprach gar nicht mehr davon, daß ich mitfahren könnte. Sie sagte: »Wir treffen uns dann übermorgen wieder in Frankfurt.«

Nachmittags, als die Sittenpolizei kam, war ich froh, daß Marie weg war, obwohl die Tatsache, daß sie weg war, für mich äußerst peinlich wurde. Ich nehme an, daß der Wirt uns angezeigt hatte. Ich gab Marie natürlich immer als meine Frau aus, und wir hatten nur zwei- oder dreimal Schwierigkeiten deswegen gehabt. In Osnabrück

wurde es peinlich. Es kamen eine Beamtin und ein Beamter in Zivil, sehr höf-

lich, auf eine Weise exakt, die ihnen wahrscheinlich als »angenehm wirkend« einexerziert worden war. Bestimmte Formen der Höflichkeit bei Polizisten sind mir besonders unangenehm. Die Beamtin war hübsch, nett geschminkt, setzte sich erst, als ich sie dazu aufgefordert hatte, nahm sogar eine Zigarette an, während ihr Kollege

»unauffällig« das Zimmer musterte. »Fräulein Derkum ist nicht mehr bei Ihnen?« -


»Nein«, sagte ich, »sie ist vorgefahren, ich treffe sie in Frankfurt, übermorgen.« - »Sie sind Artist?« Ich sagte ja, obwohl es nicht stimmt, aber ich dachte, es sei einfacher, ja zu sagen. »Sie müssen das verstehen«, sagte die Beamtin, »gewisse Stichproben müssen wir schon machen, wenn Durchreisende abortive — sie hüstelte — Erkrankungen haben.« - »Ich verstehe alles«, sagte ich - ich hatte im Lexikon nichts von abortiv gelesen. Der Beamte lehnte es ab, sich zu setzen, höflich, sah sich aber weiter unauffällig um. »Ihre Heimatadresse?« fragte die Beamtin. Ich gab ihr unsere Bonner Adresse. Sie stand auf. Ihr Kollege warf einen Blick auf den offenen Kleiderschrank. »Die Kleider von Fräulein Derkum?« fragte er. »Ja«, sagte ich. Er blickte seine Kollegin »vielsagend« an, sie zuckte mit den Schultern, er auch, sah noch einmal genau den Teppich an, bückte sich über einen Flecken, sah mich an, als erwarte er, daß ich den Mord jetzt gestehen würde. Dann gingen sie. Sie waren bis zum Schluß der Vorstellung äußerst höflich. Sobald sie weg waren, packte ich hastig alle Koffer, ließ mir die Rechnung heraufbringen, vom Bahnhof einen Gepäckträger schicken und fuhr mit dem nächsten Zug weg. Ich bezahlte dem Hotelier sogar den angebrochenen Tag. Das Gepäck gab ich nach Frankfurt auf und stieg in den nächsten Zug, der südwärts fuhr. Ich hatte Angst und wollte weg. Beim Packen hatte ich an Maries Handtuch Blutflecken gesehen. Noch auf dem Bahnsteig, bevor ich endlich im Zug nach Frankfurt saß, hatte ich Angst, es würde mir plötzlich eine Hand auf die Schulter gelegt und jemand würde mich mit höflicher Stimme von hinten fragen :

»Gestehen Sie ?«Ich hätte alles gestanden. Es war schon

Mitternacht vorüber, als ich durch Bonn fuhr. Ich dachte gar nicht daran, auszusteigen. Ich fuhr bis Frankfurt durch, kam dort gegen vier Uhr früh an, ging in ein viel zu teures Hotel und rief Marie in Bonn an. Ich hatte Angst, sie könnte nicht zu Hause sein, aber sie kam sofort an den Apparat und sagte: »Hans, Gott sei Dank, daß du anrufst, ich hab mir solche Sorgen gemacht.« - »Sorgen«, sagte ich. »Ja«, sagte sie, »ich habe in Osnabrück angerufen und erfahren, daß du weg bist. Ich komme sofort nach Frankfurt, sofort.« Ich nahm ein Bad, ließ mir ein Frühstück aufs Zimmer bringen, schlief ein und wurde gegen elf von Marie geweckt. Sie war wie verändert, sehr lieb und fast fröhlich, und als ich fragte: »Hast du schon genug katholische Luft geatmet?«

lachte sie und küßte mich. Ich erzählte ihr nichts von der Polizei.


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